Mittwoch, 30. Oktober 2013

Doc Nachtstrom (Hrsg.): Horror-Legionen



26 Autoren wollen in dieser von Doc Nachtstrom im Amrûn Verlag herausgegebenen Anthologie zeigen, dass sich das Label Made in Germany (oder Austria, schließlich ist nicht nur der Herausgeber Österreicher) im Segment Horror-Literatur nicht vor einem internationalen Vergleich scheuen brauch. Bei 26 Autoren muss von vorne herein klar sein, dass es kaum möglich ist, einen gleich hohen Standard zu gewährleisten. Darum will ich mich kurz zu jeder Story äußern, also meinen subjektiven Eindruck zu jeder Kurzgeschichte darlegen und am Ende, wenn ich nach 26 kurzen Statements noch Lust habe, den Versuch einer Gesamteinordnung wagen.

Arthur Gordon Wolf: Das Engels-Fresko
Vier relativ erfolglose Modells kriegen unverhofft einen Job bei einem exzentrischen reichen Mann, der Engelbilder sammelt. Ein guter Einstieg in die Anthologie. Wolf erfindet mit dieser Geschichte zwar das Rad nicht neu, liefert aber gute Unterhaltung auf sprachlich hohem Niveau ab. Aber das habe ich von ihm eigentlich nicht anders erwartet.
Melchior von Wahnstein: Illumination
Melchior von Wahnstein. Solch ein Pseudonym kann sich eigentlich nur ein Österreicher ausdenken. Ich gebe zu, dass mir der Name im Inhaltsverzeichnis zum ersten Mal über den Weg gelaufen ist und ich gebe zu, ob des obskuren Namens war ich auf das Schlimmste gefasst. Aber wie es so oft der Fall ist, wenn man mit gar keinen Erwartungen an eine Geschichte herangeht, wurde ich sehr überrascht. „Illumination“ ist der innere Monolog eines Mannes, der alleine in einer Kammer zum Großmeister eines nicht näher genannten Ordens initiiert werden soll. Sein einziger Zimmergenosse ist ein Totenschädel. Wie sich der Wahnsinn des Erzählers von Seite zu Seite steigert und wie Wahnstein es ihn erzählen lässt, ist einfach nur beklemmend. Großes Kino.

Carmen Weinand: Rage
Carmen Weinand dürfte dem geneigten Leser vor allem wegen ihres Blogs „Horror and more“ bekannt sein. Hier wagt sie sich nun erstmals auf die andere Seite und veröffentlicht selbst eine Kurzgeschichte (mittlerweile ist ein kleiner Sammelband mit dem Titel IN DIR mit drei Geschichten ebenfalls bei  Amrûn erschienen). Die Story „Rage“ handelt von einer Frau, die plötzlich auf dem Weg zur Arbeit ausrastet und mehr oder weniger Amok läuft. Der Grund ihrer Taten ist aber kein „normaler“. Der Plot ist zugegebenermaßen nicht sonderlich originell. Geschichten dieser Art gibt es wohl zuhauf. Was diese Geschichte interessant macht, ist die  Sprache. Besonders die Dialoge sind sehr authentisch geschrieben, so spricht man wirklich miteinander. Ich freue mich schon, mehr von Frau Weinand lesen zu dürfen. Wo wir gerade bei ihrer Geschichte sind, will ich noch erwähnen, dass die sie auch die Autorenporträt in dieser Anthologie dazu gesteuert hat. Diese wirken mir aber teilweise zu bemüht. Die Texte sollen auf Teufel komm raus witzig oder amüsant sein. Das merkt man ihnen an und dadurch sie sind es größtenteils nicht. Vielleicht mag ich es, was Autorenporträts angeht, eher klassisch. Diese haben mir nicht gefallen und passen auch durch die versuchte humorige Art nicht zum Rest der Anthologie.

Constantin Dupien: Meteoritenfeuer
Dupien war mir vor den Legionen durch den von ihm herausgegebenen Band SARTURIA MACABRE bekannt, zu dem er auch zwei Geschichten dazu steuerte. In der Story „Meteoritenfeuer“ gerät ein schon so recht unsympathischer Army-Colonel bei einem Alien-Angriff vollends außer Kontrolle. Die erste Geschichte, die mich nicht überzeugen konnte. Das Ganze wird irgendwie dahingeschludert und ein bisschen lieblos ausgeführt, so als müsste der Autor kurz vor Redaktionsschluss noch etwas abliefern. Auch der Twist am Ende kann die Story nicht mehr rausreißen.

Daniela Herbst: Letzter Gedanke München
Wieder etwas von einer mir unbekannten Autorin. Die Geschichte handelt von einer Zombieinvasion in München. Was soll ich groß dazu schreiben. Eine 08/15-Zombie-Story, die ich so oder so ähnlich schon zu oft gelesen habe, als dass ich noch Gefallen daran finden könnte. Ein bisschen origineller sollte ein solch abgelutschtes Thema schon verpackt sein.

Des Romero: Katharsis
Des Romero, Schöpfer der Romanserie HÖLLENJÄGER, bietet mit „Katharsis“ eine sehr gute Grundidee. Ein Vater nimmt seine Tochter mit zur Arbeit. Er ist Gerichtsmediziner. Auch was sich daraus dann noch überraschendes entwickelt, bietet Stoff für eine gute Geschichte. Leider schafft es Romero diesen guten Ansatz mit Atmosphäre zu füllen, so dass am Ende leider nur eine durchschnittliche Geschichte herauskommt.

Werner Skibar (Charly Blood): Bittere Früchte
Und wieder ein österreichischer Autor. Zu dieser Geschichte kann ich fast das gleiche schreiben wie zu der Des-Romero-Story. Ein Wiener Sandler (Penner) isst die falschen Früchte auf dem Naschmarkt und die Folgen bekommen ihm gar nicht gut. Auch hier fehlt das gewisse Etwas, das die Geschichte über den Durchschnitt hinausheben würde. So bleibt nach dem Lesen das Gefühl, dass nicht alles aus der Idee raus geholt wurde.

Guido Ahner: Nyxie Zombie
Die zweite Zombie-Geschichte der Anthologie. Diesmal aber eine eher unkonventionelle. Eine alkoholkranke Theaterregisseurin, die auch eine Laientheatergruppe im Fußball trainiert wird durch ein medizinisches Experiment zum Zombie. Das liest sich jetzt nicht nur absurd, das ist es auch. Leider überfrachtet Ahner die Story  etwas zu sehr mit metaphorisch-gesellschaftskritischen Anspielungen. Weniger wäre hier mehr gewesen. Trotzdem habe ich den Autor auf die Liste der zu beobachtenden Autoren gesetzt. Ich mag solch absurde Sachen einfach.

John Aysa (Alexander Ater): Das Haus der untergehenden Sonne
Sechs Freunde wollen einen Tag auf dem Anwesen des Onkels von einem der sechs verbringen. In bester Slasher-Manier muss dann einer nach dem anderen dran glauben. Viel Gore, viel Sex und viele Anspielungen auf mehr oder weniger bekannte Filme. Eine gute Geschichte, die Lust auf mehr Geschichten des Autors macht (mittlerweile ist schon ein bisschen was von Aysa im mkrug Verlag erschienen). Einziges Manko ist die etwas aufgesetzt wirkende sexuelle Obszönität, die die Handlung nicht weiterbringt und  nur auf Effekt hin konstruiert ist.

Karin Reddemann: Die Schwarzen hinter dem Vorhang
Diese Geschichte bietet einen schönen Kontrast zur vorhergehenden und zeigt die Bandbreite der Anthologie auf. Vier Menschen in einem Haus erzählen sich gegenseitig ihre Träume und irgendwie fürchten sie sich vor den Schwarzen hinter dem Vorhang, wer auch immer die sind. Eine surreale Geschichte, die viel Interpretationsspielraum lässt. Zuerst war ich etwas ratlos. Eine Geschichte die zum zweiten oder vielleicht auch dritten Lesen anregt, wenn man sich darauf einlässt. Bestimmt nicht jedermanns Sache, aber mir hat es gefallen.

Kristina Lohfeldt: Der letzte Märchenprinz
„Der letzte Märchenprinz“ ist mehr oder weniger eine Neuinterpretation eines bekannten deutschen Märchens. Das Ganze ist nett gemacht, aber nichts Weltbewegendes.

Marc Gore: The Chick and the Wolfman
Gores Storyband THE TERROR COMPILATION habe ich schon besprochen. Der kam zwar nicht besonders gut weg, aber im Gegensatz zu dieser Geschichte hier, war jede einzelne Geschichte aus THE TERROR COMPILATION um Längen besser. Ein Paar, er ist übrigens ein Werwolf, hat im amerikanischen Süden eine Bank überfallen. Auf der Flucht wird das Mädchen (the Chick) von einem Motelbesitzer, einer Rockerbande und einem Deputy sexuell belästigt oder gar vergewaltigt (innerhalb von 24 Stunden). Oh Mann, das hört sich nicht nur hanebüchen an: Das ist es auch. Hier gibt es plakative Gewalt nur um der Gewalt willen. Ich hab nichts gegen Gewalt in der Literatur, ich bin ja nicht umsonst ein Horror-Fan, aber die Gewalt sollte in die Handlung eingebettet sein. Nicht umgekehrt. Noch dazu ist die Story stilistisch eher simpel gestrickt.

Marc Hartkamp: Blacklight
Ein Parapsychologe kann mit einer von ihm entwickelten Schwarzlicht-Taschenlampe Wesen aus dem Jenseits erkennen. Eine kurze, überraschungsarme Geschichte, die aber ganz gut unterhält

Michael Sonntag: Die Rotkäppchenfalle / Stadt ohne Sheriff
Michael Sonntag liefert hier zwei Miniaturen ab. „Die Rotkäppchenfalle“ ist eine Umkehrung des altbekannten Märchens und „Stadt ohne Sheriff“ ist ein Weird Western. Beide Stories sind okay, aber solch kurze Geschichten müssen für mich etwas Beeindruckendes haben, um im Gedächtnis haften zu bleiben. Und beeindruckend sind die Stories leider nicht.

Moe Teratos: Die Rache
„Die Rache“ ist eine Rape & Revenge-Story, die mitten in Duisburg spielt. Geschichten, die im Ruhrgebiet spielen, haben es bei mir immer ein bisschen leichter. Aber diese Geschichte würde mir auch gefallen, wenn sie woanders spielte. Die Beweggründe der Protagonistin und Ich-Erzählerin werden plausibel dargestellt, wie sie sich an ihren Peinigern rächt, ist verdammt fies und zum Schluss gibt es noch eine überraschende Wendung. Ein Highlight des Bandes.

Rona Walter: Error
Und weiter geht es mit beeindruckenden Geschichten von einer Dame. Rona Walter hat mit dem Roman KALTGESCHMINKT ein mehr als beachtenswertes Debüt abgeliefert. In ihrer Geschichte „Error“ foltert ein männlicher Ich-Erzähler seinen Chef. Während er das tut, legt er seinem Opfer und dem Leser seine spezielle Philosophie dar und entschuldigt seine Taten mit dem schlechten Zustand der Welt. Das ist vor allem sprachlich auf hohem Niveau. Ich oute mich hiermit als Rona-Walter-Fan.

Sean Beckz: Der Tätowierer
Sean Beckz, der als Self-Publisher schon einige Kurzgeschichtenbände veröffentlicht hat, liefert uns die dritte Geschichte, die mehr oder weniger ein Folterszenario im Mittelpunkt hat. Wieder in der ersten Person geschrieben beschreibt ein erfolgreicher Geschäftsmann (Anwalt), wie er seinem neuen Hobby, dem Tätowieren, frönt. Das Fiese ist, das die junge Frau, die er als Objekt seiner Kunst benutzt, es alles andere als freiwillig über sich ergehen lässt. Eine gute Erzählung, die das Pech hat, gegenüber den beiden vorherigen Geschichten mit einem ähnlichen Thema etwas abzufallen. Ein anderer Standort im Buch wäre hier angebracht gewesen.

Sönke Hansen: House of the Rising Sun
“House of the Rising Sun” bietet Action pur. Ein Raubüberfall auf ein Einkaufszentrum läuft aus dem Ruder, da sich der Besitzer und die weiblichen Angestellten allesamt als Dämonen entpuppen. Eine sehr gute, temporeiche Story, die nach einer Verfilmung schreit, wird uns von Hansen präsentiert.

Stefanie Maucher: Haut
Die Autorin der Romane FRANKLIN GOTHIC MEDIUM und FIDA bietet uns erneut eine Foltergeschichte. Im Gegensatz zu den bisherigen Erzählungen  der Art ist diese aus der Perspektive des Gefolterten geschrieben. Auch hier gibt es nicht viel zu kritisieren, der Ich-Erzähler kommt ziemlich unsympathisch und uneinsichtig daher und Frau Maucher erzählt eindrucksvoll von seinen Qualen.

Thomas Backus: Frischfleisch
Ein Neuankömmling im Knast wird unter der Dusche von  alteingesessenen Häftlingen vergewaltigt. Was seine Peiniger nicht wissen, ist das er ein dunkles Geheimnis in sich trägt. Thomas Backus bedient sich hier zwar einer Menge Knast- und Horror-Klischees, aber am Ende kommt eine unterhaltsame, wenn auch nicht besonders originelle Geschichte heraus.

Tim Svart: Musik der Finsternis
Tim Svart steuert seine für den Vincent Preis 2012 nominierte Kurzgeschichte „Musik der Finsternis“ zu den Horror-Legionen bei. Ein Student verfällt dem Geigenspiel, der über ihm wohnenden Studentin. Als sie ihn eines Nachts in sein Zimmer bittet, erfährt er den Ursprung ihres Spiels. Eine Story mit einem deutlichen Locecraft-Touch, die durch die erzeugte mysteriöse Stimmung zu überzeugen weiß.

Tony Lucifer (Doc Nachtstrom): Ave Anus
Der Titel sagt schon, in welche Richtung die Story des Herausgebers der Anthologie geht. Ein Ministrant wird in einer Kirche zu einem Mitglied einer dämonischen Sekte gemacht. Der Initiationsritus ist, sagen wir mal, für den Arsch. Eine auf eklige Effekte setzende Kurzgeschichte, die zwar ein bisschen stimmungslos ist, aber der ich eine gewisse Originalität nicht absprechen kann.

Torsten Scheib: Illusionen
Alleine diese Erzählung rechtfertigt schon die Anschaffung dieser Anthologie. Nach einem nicht näher benannten Atomunglück versucht der Ich-Erzähler das Geschehene zu verdrängen. Die beiläufig eingestreuten, immer deutlicher werdenden Hinweise auf die reale Situation erzeugen eine Intensivität, wie sie verstörender nicht sein kann. Scheib liefert eine fulminante Variante eines bekannten Themas und damit eine der besten Kurzgeschichten des Jahres.

Vincent Voss: Folge der Stimme aus dem Anus Praeter
Nach Tony Lucifer beschert uns auch Vincent Voss (172,3; FAULFLEISCH) eine Popo-Geschichte. Ein Altenpfleger muss das tun, was der Titel der Geschichte aussagt. Der künstliche Darmausgang eines Patienten spricht zu ihm und er leistet dem Folge, was dieser ihm aufträgt. Das hört sich nicht nur wahnsinnig originell an, das ist es auch. Leider vergisst Voss, ob seiner genialen Idee, die Handlung voranzutreiben, so dass nur eine mittelmäßige Geschichte herauskommt. 

Xander Morus: Das Wrack der Zombies
Xander Morus ist einer der erfolgreichsten Self-Publisher des Genres. Seine Story „Das Wrack der Zombies“ liefert eine routiniert erzählte wenig originelle Zombiegeschichte, die sich gut lesen lässt, der aber das gewisse Etwas fehlt. Vier Leute suchen auf einem Schiffsfriedhof vor der Küste von West-Sahara einen Schatz, finden dort aber nur Zombies, die das tun, was Zombies halt so machen, wenn sie Menschen treffen.

Meryjaine Webster: Der Selbstversuch
Die abschließende Geschichte der Horror-Legionen ist eine kluge Erzählung, die geschickt mit dem Unterschied von Schein und Sein spielt. Die Ich-Erzählerin übertrifft durch ihre Taten ihren schon sehr perversen Partner noch an Perversität. Die Brutalität wird eher nebenbei erzählt und der Leser wird schön im Unklaren gelassen. Eine Autorin, die im Auge zu behalten, bestimmt lohnenswert ist.

Obwohl ich nur wenig zu den einzelnen Kurzgeschichten geschrieben habe, hat diese Rezension jetzt schon eine gewaltige Länge. Gratulation an alle, die bis hierhin durchgehalten haben. Was bleibt noch zu sagen: Bei 27 Stories von 26 Autoren kann man nicht erwarten, dass jede ein Volltreffer ist oder meinen persönlichen Geschmack trifft. Was ich zu dieser Anthologie aber sagen kann, dass ich schon überrascht war, wie viele dieser Stories qualitativ im oberen Bereich anzusiedeln sind. Die Reihenfolge ist in meinen Augen teilweise etwas unglücklich gewählt, aber das ändert ja nichts an den einzelnen Geschichten. Da hier hauptsächlich junge oder sagen wir mal noch nicht so etablierte Autoren handelt, mache ich mir keine Sorgen, um die nahe Zukunft des Genres in Deutschland. Durch die Veränderungen, die es im Moment durch die verlagsunabhängigen Selfpublisher, die auch in dieser Anthologie zahlreich vertreten sind, gibt, ist die deutsche Horrorliteratur ein wenig im Um-, vielleicht sogar im Aufbruch. Mal sehen, wie es in, sagen wir mal, fünf Jahren aussieht. Mit den Horror-Legionen geht es wohl weiter. Amrûn-Verleger Jürgen Eglseer hat für nächstes Jahr einen zweiten Teil angekündigt. Nächster Herausgeber wird Christian Sidjani.

Fazit: Umfangreiche und gute Anthologie, die einen erstklassigen Überblick über die „neue“ deutsche Horrorliteratur verschafft. Dieses Jahr scheint ein gutes Anthologien-Jahr zu werden. HORROR-LEGIONEN trägt sein Scherflein dazu bei. 

Doc Nachtstrom (Hrsg.): Horror-Legionen
Amrûn, Juli 2013
450 Seiten
12,95 €
ISBN: 978-3944729046
auch als E-Book erhältlich

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