Dienstag, 12. Januar 2016

Eric Berg: Das Küstengrab



Es gibt Bücher, von denen erwarte ich als erst einmal Leser gar nichts. DAS KÜSTENGRAB war so eines. Ich habe ihn zu Hand genommen, weil er gerade in die Taschenbuch-Bestsellerliste eingestiegen ist und wollte nur mal hineinlesen. Kriminalroman steht auf dem Cover. Erster Gedanke: Okay, es gibt schlimmere Genres. Der Klappentext lässt wissen, dass der Roman auf der Ostseeinsel Poel spielt. Gedanke: Puuh, ein deutscher Regionalkrimi. Da hast du aber noch nicht so viele gute Erfahrungen mit gemacht. Eine kurze Recherche nach dem Autor ergibt, dass es sich um das Pseudonym eines recht erfolgreichen Verfasser historischer Romane handelt. Gedanke: Aha, hier versucht jemand sein Repertoire zu erweitern - kann gelingen, geht aber meistens schief.

Dann ging es los. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass der Autor sein Handwerk beherrscht. Das ist schon mal etwas, was ich bei anderen Abstechern in das Regionalkrimigenre nicht immer festgestellt habe. Im Prolog geschieht das Verbrechen, um das sich der Roman hauptsächlich dreht. Ein junger Mann wird im Sommer 1990 auf Poel erschlagen.Im Anschluss springt die Geschichte in den September 2013, wo wir Lea Mahler verfolgen, die vier Monate zuvor einen schweren Autounfall erlitten hat, nachdem sie das erste Mal seit 23 Jahren zurück auf ihrer Heimatinsel war. Bei dem Unfall kam ihre Schwester ums Leben und sie hat durch eine partielle Amnesie die Vorfälle direkt vor dem Unfall vergessen.

Der Roman springt nun zwischen den aktuellen Vorfällen und dem Geschehen vom Mai hin und her. Im Mai kommt Sabine Mahler, Leas Schwester, die inzwischen Polizistin in Berlin ist, durch Zufall auf die Spur des Verbrechens aus der Wendezeit, weil sie wegen eines Immobilienverkaufs zurück in die Heimat gekommen ist.. Und im September versucht Lea, die als erfolgreiche Fotografin in Argentinien gelebt hat, herauszufinden, wie es zu ihrem folgenschweren Unfall kam.

Dort trifft sie auf ihre alten Freunde, die alle immer noch - oder wieder - auf Poel leben. Alle bis auf einen - Julian, der seit dem Sommer 1990 vermisst wird. Schnell bemerkt sie, dass alle aus der ehemaligen Clique etwas vor ihr und vielleicht auch vor sich selbst verheimlichen.

So viel zur Handlung, die keineswegs besonders originell und an manchen Stellen vielleicht auch etwas vorhersehbar ist. Aber das ist vollkommen wurscht, denn eines ist der Roman nicht, nämlich langweilig. Man darf natürlich keinen tempogeladenen Actionreißer erwarten oder einen klassischen Krimi, in dem das wichtigste die Lösung eines Tathergangs ist. Das bekommt man hier ausdrücklich nicht. Was man bekommt, ist, eine an die Atmosphäre eines kleines Dorfes angepasste, ruhige Erzählung, die ihre Spannung nicht aus der Aufklärung eines Mordes oder eines Unfallhergangs bezieht, sondern aus dem Verhältnis der Freunde - oder vielmehr der ehemaligen Freunde - untereinander bezieht. Alle haben sie in den letzten 23 Jahren eine komplett unterschiedliche Biographie aufgebaut. Hier der erfolgreiche Geschäftsmann, der mehr oder wenig auf ganz Poel den Ton angibt, und der eine alte Jugendfreundin geheiratet hat, die nach einem erfolglosen Versuch in Hollywood Fuss zu fassen, wieder zurück nach Mecklenburg gekommen ist. Dort ein verarmtes Geschwisterpaar, in dem sie die kranke Mutter pflegt und er so etwas wie den verschrobenen Inselkauz gibt. Und zum Schluss noch der Landarzt, der früher in der Clique der ruhigste und zurückhaltendste war. 

Und das war es, was mich am Ball blieben ließ. Einen weiteren 08/15-Kriminalroman hätte ich wahrscheinlich nach 50, 60 Seiten in die Ecke gepfeffert. Aber die Suche Lea Mahlers nach Teilen ihrer Vergangenheit, ihr Unbehagen, dass sie ihrem früheren Ich gegenüber mehr und mehr empfindet, und dass sie von sich selbst entfernt, obwohl sie sich eigentlich sucht, erzeugt mehr Spannung als ein klassischer Whodunit. Dazu kommt, dass unter der heilen Oberfläche des Inseldorfs mehr und mehr Risse zutage treten, die in den letzten Jahren mehr schlecht als recht kaschiert waren. Alles in allem eine Geschichte also, die ich so bestimmt nicht erwartet hatte.

Trotzdem kann ich leider keine vorbehaltlosen Jubelstüme über DAS KÜSTENGRAB hinwegwehen lassen. Es gibt auch Schwachpunkte. Zum einen die oben schon erwähnte Vorhersehbarkeit und zum anderen versucht sich der Erzähler doch an recht einfachen pseudopsychologischen Erklärungen für manche Verhaltensmuster. 

Aber was soll’s, wir haben hier einen Unterhaltungsroman vorliegen. Und unterhalten wird der Leser, und zwar auf einem recht hohen Niveau. Und darin beziehe ich nicht nur die Geschichte, sondern auch die Sprache mit ein. Ich gebe noch einmal zu, dass ich damit nicht gerechnet habe. Genauso wenig wie mit den klug eingesetzten Perspektivwechseln. Hauptsächlich wird zwar aus der Ich-Perspektive Lea Mahlers heraus erzählt, aber es wird immer wieder - und zwar genau in den passenden Augenblicken - in die dritte Person gewechselt. Egal ob die Lea Mahler weiterhin zum Geschehen gehört oder nicht. Das und auch die Zeitsprünge, die in meinen Augen auch immer zum rechten Zeitpunkt geschehen, zeigen, dass dieser Roman sehr klug komponiert worden ist. Und wenn mir jetzt jemand damit kommt, dass das Buch dadurch um einiges verwirrender wird, dem halte ich entgegen: Na und? Darf ein unterhaltender Kriminalroman nicht von seinen Lesern auch ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit verlangen? Ich für meinen Teil habe jedenfalls einen Autor entdeckt, dessen Bücher nicht mehr von mir unterschätzt werden.

Eric Berg: DAS KÜSTENGRAB
Blanvalet 2015
Originalverlag: Limes, 2014
Taschenbuch, Broschur, 432 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-7341-0218-9
€ 9,99 

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