Sonntag, 2. Februar 2014

Kôji Suzuki: Der Graben


Es gibt Bücher, die niemand mag. DER GRABEN scheint eines davon zu sein. Nach allem, was ich im Vorfeld gehört und gelesen hatte, habe ich mich auf eines der langweiligsten Bücher überhaupt gefasst gemacht. Und was habe ich festgestellt: man sollte nicht so viel auf die Meinungen anderer Leute hören, sondern sich ab und zu selbst mal ein Bild machen. Ob man ein Buch gut oder schlecht, langweilig oder spannend findet, ist eine zutiefst subjektive Entscheidung. Das sei hier auch einmal an die Leser meiner Rezensionen gerichtet: wenn ich ein Buch toll finde, heißt das noch lange nicht, dass ihr das auch tut und umgekehrt genauso, was ich mit dem Stempel „mies“ versehe, können viele andere als ihr persönliches Nonplusultra ansehen.

Aber zurück zu DER GRABEN. Der Roman krankt vor allem an einem: die Erwartungen, die vom Cover und vom Klappentext geschürt werden, sind nicht die, die das Buch am Ende einhält. Auf der Rückseite des Buches kann man lesen: „Als der San-Andreas-Graben von einem Beben erschüttert wird, spitzen sich die Ereignisse zu einem Crescendo des Grauens zu…“. Das liest sich zwar extrem gut und reißerisch, hat aber mit dem Suzukis Roman herzlich wenig zu tun. Das Beben habe ich entweder überlesen oder es fand nicht statt. Und wenn ich „Crescendo des Grauens“ lese, erwarte ich eigentlich Action pur. Und Action bietet der Roman eher weniger.

Aber was bietet DER GRABEN dann?Warum ist er für mich trotzdem ein gutes Buch ist? Spannung. Aber nicht die Art Spannung, die man normalerweise von Thrillern erwartet. Die Spannung des Buches liegt auf einer anderen Ebene. Und zwar auf einer mathematisch-physikalischen aber auch metaphysischen Ebene. Suzuki stellt die Frage, was passiert, wenn die Ordnung, wie wir sie kennen und sie soweit es geht auch wissenschaftlich nachgewiesen ist, plötzlich nicht mehr dieselbe ist. Was für Auswirkungen hat eine Verschiebung der Gleichgewichte des Universums. Er vermengt zwar einige hanebüchene Theorien miteinander, aber das darf ein Romanautor auch tun. Trotzdem hat er ein spannendes Grundszenario entworfen und die Fragen, die er aufwirft, finde ich persönlich sehr spannend.

Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt: Menschen verschwinden plötzlich. Aber nicht nur Menschen auch Sterne am Himmel verschwinden und bei Berechnungen der Zahl Pi ist das Ergebnis plötzlich ein ganz anderes: ab der 5.000.000.000. Nachkommastelle erscheinen plötzlich nur noch Nullen. Saeko Kuriyama ist eine Reporterin, die einen Bericht über eine verschwundene japanische Familie verfassen soll. Sie hat Erfahrung in Nachforschungen nach vermissten Personen, da sie ihren vor 18 Jahren verschollenen Vater, schon ebenso lang sucht und sich dabei ein gewisses Know-How auf dem Gebiet erarbeitet hat. Ihr Vater war Verleger wissenschaftlicher Werke und hat sie auch mathematisch-physikalisch vorgebildet. Somit schließt sich der Kreis zu den verschwundenen Sternen und den plötzlich anderen Ergebnissen von bekannten Rechnungen.

Was in der Handlung weiter passiert, ist eigentlich nicht so sehr von Belang. Die geschiedene Saeko verliebt sich in einen Kollegen und ihr fällt im Haus einer vermissten Familie das alte Notizbuch ihres Vaters in die Hand, womit ein weiterer Kreis geschlossen wird, der Bezug der „neuen“ Vermissten zum „alten“ Vermissten, ihres Vaters. Es werden noch mehr Personen in die Handlung eingeführt, aber diese sind nur Stichwortgeber für die Theorie, dass das Universum vor einer grundlegenden Veränderung steht.

Ich kann jeden verstehen, der dieses Buch langweilig findet. Es passiert vordergründig herzlich wenig und ab und zu gibt es mal einen kleinen Ausbruch. Das mag an einer gewissen japanischen Erzählform liegen, die uns Europäern nicht sofort zusagt. Es kann auch nicht jeder etwas mit den Filmen Akira Kurosawas oder Takeshi Kitanos anfangen. Trotzdem hält das Buch in meinen Augen die Spannung die ganze Zeit hoch. Aber dafür muss man das Szenario spannend finden: was passiert eigentlich, wenn die Sprache der Natur, die Mathematik, plötzlich von ihren Erfindern, den Menschen, nicht mehr verstanden wird und damit die Naturwissenschaften plötzlich nicht mehr die Ergebnisse liefern, die sie sonst Jahrhunderte lang lieferten. Ein beängstigendes Szenario. Ist die Sprache plötzlich falsch oder haben sich grundlegende Dinge verändert?

Aber noch etwas hat es mir angetan: die von Suzuki benutzten Stilmittel. Er hat versucht die wissenschaftliche Ebene des Erzählten in die Erzählung mit einzubauen. Wenn im Prinzip gesagt wird, dass im Universum alles miteinander verzahnt ist, dass eine Aktion in mehreren Lichtjahren Entfernung eine Reaktion auf der hervorruft, so haben im Buch die scheinbar abwegigsten Sachen noch irgendwie einen Zusammenhang zueinander. Manche mögen das für unlogisch halten, ich halte es für konsequente Umsetzung der ausgesprochenen Thesen im Text selbst. Anderes Beispiel: Schon nach ein paar Seiten fiel mir auf, dass sich Manches im Roman wiederholte. Ein Geschehnis, was ein paar Seiten vorher schon beschrieben wurde, wird auf einmal mit fast identischen Worten nochmal beschrieben. Mein erster Gedanke war, wie kann so etwas denn passieren. Hat der gute Kôji Suzuki in Japan so ein Standing, dass er keinen Lektor mehr nötig hat? Bis ich auf den Trichter kam, dass es Absicht war. In seiner letzten Postkarte an seine Tochter schreibt Saekos Vater von der Informationstheorie. Und die Informationstheorie ist eine Theorie aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Redundanzen eine gewichtige Rolle spielen (vereinfacht ausgedrückt). Also kann man davon ausgehen, dass Suzuki seine wiederholten Informationsübermittlungen bewusst als Stilmittel eingesetzt hat..

Das alles, zusammen mit der hohen Recherchequalität - die Bibliographie am Ende des Buches, die voller interessanter Bücher für alle ist, die sich mal näher mit dem Themen des Buches beschäftigen wollen (darunter auch einige populärwissenschaftliche Werke, die auch für absolute Laien verständlich sind), zeugt davon – hat mir ein großes Lesevergnügen beschert. Wie schon erwähnt, das Buch wird nicht jeden so begeistern – im Gegenteil. Der Klappentext weckt falsche Erwartungen, da hätte man von Seiten des Verlags eher andere Aspekte des Romans in den Vordergrund stellen sollen. Und noch eines finde ich sehr merkwürdig. Warum übersetzt man die amerikanische Übersetzung eines japanischen Originals? Gibt es in Deutschland nicht genügend literarische Übersetzer für Japanisch oder sind die teurer als andere? Durch die doppelte Übersetzung wird vermutlich einiges von der Originalversion auf der Strecke geblieben sein. Das ist schade. Trotzdem ist das deutsche Buch, das ich gelesen habe ein gutes, ein interessantes und für mich auch spannendes Buch, das mich zum Nachdenken angeregt hat und mein vor langer Zeit verloren gegangenes Interesse an Mathematik zurückgebracht hat.

Fazit: Wissenschaftsthriller mit Mystery-Touch, der, wenn man nicht nur auf vordergründige Spannung aus ist, intelligente Unterhaltung liefert. Aber Vorsicht: Wer Mathematik, Physik und Philosophie (Metaphysik) von vorneherein langweilig findet, sollte die Finger von dem Buch lassen.

Kôji Suzuki: Der Graben
Thriller
Titel der japanischen Originalausgabe: EJI (2012)
Titel der amerikanischen Übersetzung: THE EDGE
Aus dem Amerikanischen von Katrin Marburger
Heyne, Januar 2014
592 Seiten
9,99 € (Taschenbuch)
ISBN: 978-3453437449
auch als E-Book erhältlich (8,99 €)

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